Wer hat Angst vor der Selbstoptimierung? Eine interdisziplinäre Debatte zu Bedeutung(en), Voraussetzungen und Folgen von Selbstoptimierung
Konferenzorganisatorinnen: Anja Röcke, Anna Katharina Schaffner und Greta Wagner
Titel
Wer hat Angst vor der Selbstoptimierung? Eine interdisziplinäre Debatte zu Bedeutung(en), Voraussetzungen und Folgen von Selbstoptimierung
Datum und Ort
5. März 2021 in Hamburg/virtuell
Konferenzthema
Das Thema Selbstoptimierung spaltet die Gemüter. Während es eine beträchtliche und stetig wachsende Anzahl von Personen gibt, die Praktiken der Selbstoptimierung anwenden, dominiert in der deutschen Feuilletonlandschaft vielfach ein klarer Optimierungsskeptizismus. Deutschsprachige Mediendiskurse zum Thema Selbstoptimierung sind oft von pessimistischen und alarmistischen Gegenwartsdiagnosen geprägt. Diese interdisziplinäre Tagung, zu der Soziolog*innen, Psycholog*innen und Kulturwissenschaftler*innen beitragen werden, versucht, Licht auf die unterschiedlichen Bedeutungen, Voraussetzungen und Folgen der Selbstoptimierung in Deutschland und darüber hinaus zu werfen.
- Auf welchen sozialen, technischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen basieren Idee und Praxis von Selbstoptimierung und was sind mögliche individuelle und gesellschaftliche Folgen?
- Welche Bedeutung(en) haben Idee und Praxis der Selbstoptimierung für die jeweiligen Personen wie auch für die Gesellschaft insgesamt? Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf Idee und Praxis von Selbstoptimierung?
- In welchem Verhältnis stehen Selbstoptimierung und Selbstverbesserung?
- Welche psychologischen Erklärungsmodelle gibt es, die einerseits das Unbehagen an der Optimierungskultur erklären können, andererseits aber auch die Begeisterung und Überzeugung der Optimierungsanhänger?
Wir werden uns diesen und weiteren Fragen widmen, um die Selbstoptimierungsdebatte mit spezifischem Fokus auf die Lage in Deutschland aus neuen soziologisch-sozialwissenschaftlichen, komparatistischen und psychologischen Perspektiven kritisch zu hinterfragen.
Referent*innen
Oswald Balandis, Ruhr-Universität Bochum
Ulrich Bröckling, Universität Freiburg
Vera King, Goethe-Universität Frankfurt und Sigmund-Freud-Institut Frankfurt
Anja Röcke, Humboldt-Universität zu Berlin
Anna Katharina Schaffner, University of Kent und HIAS Fellow Hamburg
Programm
9.00 Einleitung
9.15 Anna Katharina Schaffner, University of Kent und HIAS Fellow Hamburg
Ein Plädoyer für die Selbstverbesserung
9.35 Kommentar (Sighard Neckel) und Diskussion
Moderation Anja Röcke
10.10 Anja Röcke, Humboldt-Universität zu Berlin
Zwischen Medienschlagwort und soziologischem Konzept. Thesen über Selbstoptimierung
10.30 Kommentar (Greta Wagner) und Diskussion
Moderation Anna Katharina Schaffner
11.05 KAFFEEPAUSE
11.20 Ulrich Bröckling
„…dass es im besten Fall nicht ganz so schlimm kommen wird“. Über inverse Optimierung
11.40 Kommentar (Anja Röcke) und Diskussion
Moderation Greta Wagner
12.15 LUNCH
13.00 Vera King, Goethe-Universität Frankfurt und Sigmund-Freud-Institut Frankfurt
Lost in Perfection - Optimierung in der Krise
13.20 Kommentar (Anna Katharina Schaffner) und Diskussion
Moderation Greta Wagner
13.55 Oswald Balandis, Ruhr-Universität Bochum
Psychosoziale Aspekte technisch vermittelter Selbstoptimierung. Eine qualitative Untersuchung von Praktiken des Self-Trackings
14.15 Kommentar (Sophia Prinz) und Diskussion
Moderation Anja Röcke
14.50 Schlussdiskussion
Moderation Anna Katharina Schaffner
15.00 Ende
Abstracts:
Oswald Balandis
Psychosoziale Aspekte technisch vermittelter Selbstoptimierung. Eine qualitative Untersuchung von Praktiken des Self-Trackings
Bei Praktiken des Self-Trackings eröffnet die Frage nach der Relation von Optimierungszwängen auf der einen und individuellen Handlungsanpassungen sowie psychischen Abwehrformen auf der anderen Seite das Problem ihrer materiellen und symbolischen Vermittlungen. Mithilfe sozial- und kulturpsychologischer Perspektiven lassen sich diese Optimierungspraktiken in einer Technikkultur verorten, bei der individuelle Probleme als prinzipiell berechenbar und technisch bewältigbar erscheinen. Mit diesem Beitrag soll anhand einer qualitativen Untersuchung von Self-Tracking Praktiken versucht werden, zum Verständnis optimierender Selbstverhältnisse beizutragen, indem die perpetuierende Funktion soziotechnischer (materieller und symbolischer) Vermittlungen fokussiert wird: Einerseits erleichtern sie die Unterordnung individueller Handlungsziele unter eine Rationalität der Mittel, andererseits legen sie eine stetige Ausweitung des zu optimierenden Handlungsfeldes nahe.
Ulrich Bröckling
„…dass es im besten Fall nicht ganz so schlimm kommen wird“. Über inverse Optimierung
Vieles spricht dafür, dass die Diagnose der Optimierungsgesellschaft sich erschöpft hat. Angesichts von Pandemien, Klimawandel und anderen Bedrohungen schnurren die Zukunftshoffnungen darauf zusammen, dass es im besten Fall nicht ganz so schlimm kommen wird. Damit verliert der Optimierungsimperativ seine Sogkraft bzw. wechselt das Vorzeichen: Statt um Nutzenmaximierung geht es um Schadensminimierung. Nicht das Erreichen des Bestmöglichen, sondern die Verhinderung des Schlimmstmöglichen oder, wenn das nicht länger realistisch erscheint, Resilienz gegenüber dem Unvermeidbaren stehen auf der Agenda.
Vera King
Lost in Perfection - Optimierung in der Krise
In diesem Beitrag werden Logiken, Widersprüche und Motive der Optimierung aus soziologisch-sozialpsychologischer Perspektive diskutiert, anknüpfend an Befunde und Konzeptualisierungen zweier Verbundprojekte - 'Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne' und, noch laufend, 'Das vermessene Leben,' über digital quantifizierende Optimierung (King, Gerisch und Rosa).
Anja Röcke
Zwischen Medienschlagwort und soziologischem Konzept. Thesen über Selbstoptimierung
In Teilen des deutschsprachigen medialen Diskurses ist Selbstoptimierung ein tendenziell (kultur-)kritisch gerahmtes Schlagwort, wie eine Analyse der Wochenzeitung Die Zeit verdeutlicht. Wie im Unterschied dazu ein soziologisches Konzept von Selbstoptimierung aussehen kann, ist Gegenstand des darauffolgenden Beitrags. Der Vortrag endet mit Thesen zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedeutung von Selbstoptimierung.
Anna Katharina Schaffner
Ein Plädoyer für die Selbstverbesserung
In diesem Beitrag differenziere ich zwischen der Selbstverbesserung und dem Selbstoptimierungsbegriff. Ich zeige, dass die Selbstverbesserung eine Praktik mit einer langen, reichen und sowohl philosophisch und psychologisch komplexen Tradition ist die sich bis in die chinesische Antike zurückverfolgen lässt. Die Selbstverbesserung ist nicht nur ein zeitloses und kulturübergreifendes Anliegen des Menschen, sondern, so meine These, von existentieller Bedeutung für das Gedeihen von Individuen und Gesellschaften.