Natan
Sznaider
Das Wagnis der
Öffentlichkeit:
Hannah Arendt trifft
Günter Gaus
Lesen Sie hier die englische Übersetzung des Artikels.
Issue #02 — Transforming Environments
Die Zeit: der 16. September 1964. Der Ort: das Studio des neuen Senders ZDF. Ein Mann und eine Frau betreten das Studio, um ein Interview aufzunehmen. Kurzum die Bühne stand bereit für die beiden.
Wenn Sie sich das Interview anschauen, werden Sie sehen, dass der Mann ziemlich angespannt wirkt. Es ist nicht einfach für ihn. Seine Gesprächspartnerin ist eine damals schon berühmte Denkerin, eine schon ältere Dame, eine Jüdin, die in New York eine neue Heimat fand. Er, 23 Jahre jünger als sie, ist einer der profiliertesten Journalisten Deutschlands, am Beginn einer großen journalistischen und politischen Karriere. Der Vorhang geht auf, nun kann es losgehen.
Der Prolog beginnt damit, dass die jüdische Dame von sich behauptet, keine Philosophin zu sein. Unser Journalist spielt den Verwirrten. Er besteht darauf, dass sie eine sei. Zuschauer und Zuschauerinnen könnten meinen, dass das nicht unbedingt ein guter Auftakt für ein Gespräch sei. Die Dame erklärt sich, versucht unserem Journalisten darüber aufzuklären, was es in ihren Augen bedeutet, ein denkender Mensch in der Welt zu sein. Dabei betont sie ihm gegenüber, in der Politik geht es darum, in der Welt zu handeln, in der Philosophie geht es darum, über die Welt nachzudenken. Das mag für ihn wiederum schwer nachvollziehbar zu sein. Die Spannung zwischen Denken und Handeln bestimmt das Dasein der Dame. Das ist der Grundtenor ihres Lebens. Darum geht es auch in diesem Gespräch.
Einige Wochen später, am 26. Oktober 1964, strahlte der vor etwas mehr als einem Jahr neu gegründete Sender ZDF das Interview um 21.30 Uhr aus. In den Zeitungen wurde nicht darauf hingewiesen.
Arendt sprach selten über sich selbst. Hier macht sie eine Ausnahme.
»Zur Person« heißt die Sendung, die in ihrer ersten Fassung zwischen April 63 und April 66 ausgestrahlt wurde. Sie wurde zu einer legendären Sendung. Hannah Arendt war der 17. Gast der Sendung, die erste Frau nach 16 Männern in einer Reihe von Interviews, die der später in die Politik wechselnde Günter Gaus führte. Beide rauchen während der Sendung, insofern wissen wir, dass es ein älteres Programm ist. Die beiden sprechen über Philosophie, das Schreiben, die Rolle der Frau, Arendts jüdische Kindheit, Emigration, den Holocaust, ihr berühmt-berüchtigtes Eichmann-Buch, das gerade ins Deutsche übersetzt wurde. Diese deutsche Übersetzung war auch eigentlich der Grund, warum sie sich in Deutschland aufhielt und Gaus sie interviewte.
Arendt sprach selten über sich selbst. Hier macht sie eine Ausnahme. Sie ist sichtlich nervös, aber ihre Nervosität macht sie in ihrer Sprache und in ihren Antworten nur konzentrierter. Sie spricht glasklar, ihr Deutsch ist schärfer denn je. Wie alle trägt auch Hannah Arendt ihre persönliche, familiäre und kollektive Geschichte in sich selbst. Jeder einzelne Satz zeugt davon. Sie ist Jüdin, die 1906 auf die Welt kommt, die gerade mal 27 Jahre alt ist, als die Nazis die Macht ergreifen, sie flüchtete vor den Nazis nach Frankreich, von dort über Lissabon 1941 in die USA. In New York lebte sie den Krieg und auch die sogenannte Nachkriegszeit. Aber für Juden und Jüdinnen gibt es keine Nachkriegszeit. Die Zeit nach der Shoah ist nie „danach“, sie ist immer im Jetzt.
Arendt weiß, dass sie zu der Zeit des Interviews schon berühmt ist. Ihre Bücher sind veröffentlicht, das Buch über den Totalitarismus, das Buch über Rahel Varnhagen, das Buch über den Eichmann-Prozess. Sie will gehört und gesehen werden.1959 erhielt sie den Lessing Preis der Freien und Hansestadt Hamburg. Juden sind in Deutschland lange nicht mehr gehört worden. Die Aufmerksamkeit schmeichelt ihr zunächst. Es ist nicht selbstverständlich, dass man als Jude oder Jüdin eingeladen wird. Arendt und Gaus sind begnadete Schauspieler. Die beiden spielen ihre Rollen. Es ist kein Monolog, sondern auch ein Dialog zwischen den Generationen. Gaus wurde 1929 geboren und verkörpert das neue Deutschland nach der NS-Zeit. Er war ein linksliberaler Journalist, Teil der neuen westdeutschen Elite. Er glaubt, er könne sich als Deutscher frei mit einer Jüdin unterhalten.
Aber es geht um mehr als über das deutsch-jüdische Gespräch. Arendt ist die erste Frau in dieser ZDF-Gesprächsreihe. Wir sehen ein nicht übliches Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau. Arendt spricht offen über die Rolle der Frauen. Sie hat das nicht sehr oft getan, vielleicht ist es sogar das erste Mal, dass sie es in der Öffentlichkeit tut. Sie war nicht gerade als eine Feministin bekannt. Sie belächelt die männliche Lust nach Bedeutsamkeit. Aber hinter dem Dialog der Generationen und Geschlechter gibt es auch eine andere Schicht, die schwieriger zu erkennen ist; es ist ein Dialog zwischen einem deutschen Mann und einer jüdischen Frau. Die Sprache mag täuschen; beide sprechen ein brillantes Deutsch. Arendt wurde in Deutschland ausgebildet und das merkt man. Man kann sie auf den ersten Blick für eine deutsche Frau halten.
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Es ist ja nicht die deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden ist. Und zweitens: Es gibt keinen Ersatz für die Muttersprache.
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Das sagt sie so einfach. Und doch war ihr bewusst, dass es schon immer verwirrend war, dass Juden und Jüdinnen deutsch sprachen und schrieben und dass sie trotzdem keine Deutschen waren. Nach 1945 ist das noch erbarmungsloser als zuvor, denn es erzeugt die Illusion eines Gesprächs und kontrolliert doch gleichzeitig seine Grenzen. Die Sprache verrät sie nicht, aber dies ist kein Dialog zwischen zwei Deutschen, sondern ein Dialog zwischen einem Deutschen und einer Jüdin und mehr als das, einer amerikanischen Jüdin, die Arendt zum Zeitpunkt des Interviews schon war. Arendt lebte zum Zeitpunkt des Interviews seit mehr als 20 Jahren in New York. Gaus weiß das. Nachdem er kurz mit ihr über Politik und Philosophie gesprochen hat und darüber, was es bedeutet, zu schreiben, fragt er sie, warum sie Deutschland 1933, nach ihrer kurzen Verhaftung wegen ihres Jüdischseins, verlassen musste. Dies ist der entscheidende Punkt im Gespräch. Das Exil wurde für sie zu einem Geisteszustand. Die den Juden feindliche Welt wurde für sie zum Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns. Die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält sie 1951, welche nicht nur ihren legalen Status verändert, sondern ihr auch existenzielle Sicherheit als Amerikanerin gibt.
Das Interview nimmt an Intensität zu. Als durch und durch jüdische Denkerin betont sie nach einem kleinen Abstecher zu ihrer Kindheit, in ihren Ausführungen die Katastrophe der Shoah, des Zivilisationsbruchs für Juden und die Welt. Es ging ihr immer um jüdische Sichtbarkeit und die Politisierung dieser Sichtbarkeit ist eben auch der Staat Israel. Wie sie deutlich sagt:
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Wenn man als Jude angegriffen ist, muß man sich als Jude verteidigen. Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so.
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Und dann natürlich Adolf Eichmann, über den sie in ihrem Prozessbericht schrieb. Hier bei Gaus wiederholt sie nochmals ihre Grundthese:
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Aber ich war wirklich der Meinung, daß der Eichmann ein Hanswurst ist.
«
Was meint sie wohl: Seine Sätze klingen, als wären sie auswendig gelernt. Er beantwortet Fragen mit erlernten Phrasen und es ist, als ob diese Klischees es ihm erlaubten, sich zu konzentrieren und sich selbst zu vertrauen. Sie sah ihn schon fast als eine leere Hülle, ohne Inneres, ohne Gewissen, gefüllt mit Platituden, die er im passenden Moment abruft. Ein Hanswurst eben, Banalitäten von sich gebend. Und so entrollt Arendt den Begriff von der Banalität des Bösen mit einem fast schon poetischen Klang.
Und sie fragte sich ständig als eine in Deutschland geborene und dort studierende Jüdin und bis Mitte zwanzig auch dort lebend, wie man als Jüdin auf Deutsch zu Deutschen und in Deutschland spricht. Nur so kann man ihr Gespräch mit Gaus verstehen und nachvollziehen. Wie kann also die innere jüdische Sprache nach außen hin sprachlich übersetzt werden? Welche Sprache ist angebracht, um aus jüdischer Sicht auf Deutsch einem deutschen Publikum zu beschreiben, ja zu erklären, was geschah, wenn man immer noch sprachlos ist. Wie also ein ehrliches Gespräch führen? Wir wissen es nicht wirklich, aber Arendt erscheint in der Tat auf der Bühne des ZDF. Sie wagt sich mit diesem Gespräch in die Öffentlichkeit, so wie alle Juden und Jüdinnen sich in Deutschland in die Öffentlichkeit wagen müssen.
Mit diesen eindringlichen Worten beendet sie das Interview:
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Das Wagnis der Öffentlichkeit scheint mir klar zu sein. Man exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit, und zwar als Person. Wenn ich auch der Meinung bin, daß man
nicht auf sich selbst reflektiert in der Öffentlichkeit erscheinen und handeln darf, so weiß ich doch, daß in jedem Handeln die Person in einer Weise zum Ausdruck kommt wie in keiner anderen Tätigkeit. Wobei das Sprechen auch eine Form des Handelns ist. Also das ist das eine. Das zweite Wagnis ist: Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Wir sind alle darauf angewiesen zu sagen: Herr vergib ihnen, was sie tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem — schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen — Vertrauen in das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht.
«
Nach diesem Satz schaut Hannah Arendt etwas verstört in die Kamera. Seit 2013 haben mehr als eine Million Menschen das Interview auf YouTube aufgerufen, eine Plattform, die weder Arendt noch der Journalist Günter Gaus zu Lebzeiten kannten. In der Tat ein Wagnis der Öffentlichkeit.
Die Originalaufnahme des Interviews können Sie hier sehen.
Natan Sznaider
Natan Sznaider ist Professor Emeritus für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv. Sznaider lehrte und forschte auch an der Columbia Universität, an der Hebräischen Universität in Jerusalem und an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Die zentralen Themen und Fragen seiner Forschung sind Kosmopolitismus, Erinnerung, Antisemitismus, Wissenssoziologie, Hannah Arendt, Politische Theorie und Shoah.
Abgedruckt ist das Interview in: Hannah Arendt, Ich will Verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München, 2005, S. 46-72.
Bildinformationen: Alle Szenenbilder sind der ZDF-Dokumentation »Zur Person – Hannah Arendt, die politische Denkerin« entnommen. https://www.zdf.de/dokumentation/zur-person